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Radbruchs Rechtsphilosophie




 

Radbruchs Lebenswerk als Lehrer des Straf-rechtes und der Rechtsphilosophie ist von sei-nem Schüler Arthur Kaufmann in 20 Bänden im C. F. Müller Verlag herausgegeben worden*. Die ersten Bände befassen sich vornehmlich mit rechtsphilosophischen Abhandlungen, insbeson-dere dem Lehrbuch der Rechtsphilosophie und den Grundzügen der Rechtsphilosophie**, wäh-rend die weiteren Bände nicht nur strafrech-tliche Themen umfassen, sondern auch recht-shistorische und rechtsvergleichende*. So ent-hält Band 15 der GRGA (Gustav Radbruch Ge-samtausgabe) auch alle rechtsvergleichenden Arbeiten. In der 8. Auflage seiner “Rechtsphilo-sophie” hat Radbruch 1932 das Recht als einen Kulturbegriff gekennzeichnet. Danach ist Recht die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rech-tswert oder der Idee der Gerechtigkeit zu dienen. An anderer Stelle schreibt er nach dem Zweiten Weltkrieg: “Recht ist, was den Sinn hat, Gerech-tigkeit zu verwirklichen”**. Der zweite zentrale Begriff, um welchen sich Radbruchs Denken bewegt, ist die Frage des sog. Methodendua-lismus zwischen Sollen und Sein. Hier fragt er danach, ob es objektive Werte in der Wirklich-keit gibt, oder ob diese Rechtswerte immer nur Ausdruck der subjektiven Erkenntnis sind. Natü-rlich ist dieses Problem in einer Parallele zum Universalienstreit zu sehen, bei welchem es um das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen geht. Mit anderen Worten könnte man sagen, es geht hier um die Frage, ob es einen Wertrealis-mus oder einen Wertnominalismus gibt. Eine weitere Folgerung daraus ist, dass für ihn Natur und Kultur streng geschieden sind, so dass man aus der Natur keine Werte folgern kann. Die Re-chtsgesetze sind daher Sollensgesetze nicht Na-turgesetze; Naturgesetze haben ein Müssen zum Inhalt, Wertgesetze dagegen ein Sollen. Insofern ist das Recht oder die Gerechtigkeitsidee für Ra-dbruch ein Axiom, das nicht mehr auf höhere Prinzipien zurückgeführt werden kann. Aller-dings kann keine Rechtsnorm absolute Gerech-tigkeit garantieren, sie bleibt aber Rechtsnorm, weil sie der Verwirklichung der Ideen der Gere-chtigkeit dienen soll. Er erkennt drei verschie-dene Höchstwerte des Rechtes: Den individua-listischen, den überindividualistischen und den transpersonalen Rechtswert (Freiheit, Nation, Kultur). Allerdings gibt es keine rational zu begründende Rangordnung unter diesen drei Hö-chstwerten. Hier kann auch ein Vergleich mit dem Ästhetischen weiterhelfen: Wie auch das nicht ultimativ Schöne Kunst ist, sondern auch das Kunstwerk, das nicht das allerhöchste Schö-ne verwirklicht, so ist auch die Norm Recht, die nicht die höchste Gerechtigkeit realisieren kann, aber doch diese beabsichtigt oder intendiert.

Wie schon ausgeführt wurde, kann es kein ra-tionales Kriterium geben, um auszumachen, wel-ches Rechtsgut der drei höchsten Werte den ab-soluten oder den höchsten Rang einnimmt. Eine Rangfolge kann man nicht “erkennen”, sondern nur “bekennen”. Die Wissenschaft kann diese Entscheidung in dreifacher Weise rational un-terbauen: Sie kann einmal die Wertungen ratio-nal, systematisch und vollständig darstellen. Weiterhin kann sie die Mittel darlegen, die zu ihrer Verwirklichung erforderlich sind und ana-lysieren, welche Folgen sich daraus ergeben.

Radbruchs Rechtsbegriff ist also nicht posi-tivistisch, da die Norm nur dann als Recht ange-sehen werden kann, wenn die Gerechtigkeitsidee zumindestens intendiert ist. Insofern ist die Leh-re vom übergesetzlichen Recht, die Radbruch nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 in einem be-rühmten Aufsatz niedergelegt hat, bereits 1932 in seiner Rechtsphilosophie ja, wie Arthur Kauf-mann festgestellt hat, schon 1918 in den “Grun-dzügen” angelegt***. Sein Rechtsbegriff ist aber auch nicht naturrechtlich, da sein richtiges Re-cht nicht mit dem absoluten Recht gleichzu-setzen ist. So gibt es also für ihn nur “annäherungsweise” richtiges Recht. Es ist also auch unzutreffend, dass Radbruch die sog. Schandgesetze (leges corruptae) vor 1945 als gültig angesehen habe, nach 1945 sie aber als nichtig bezeichnet.

Der junge Radbruch ist in seiner Entwicklung zunächst durch Emil Lask beeinflusst, und mit der südwestdeutschen Richtung des Neukantia-nismus vertraut gemacht worden****. Die Mar-burger Richtung dieser geistigen Bewegung gründete sich vor allem auf den Gegensatz von Form und Stoff. Dabei war für Stammler, den führenden Rechtsphilosophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dieser Gegensatz nur eine Denk-form ohne Rücksicht auf den darin zum Ausd-ruck gebrachten Inhalt. Aus dieser Einstellung heraus, vor allem auf der Grundlage des stren-gen Dualismus zwischen Sollen und Sein, hat er jeden Historismus, jeden Positivismus, aber auch jeden Evolutionismus abgelehnt. Will man Rad-bruch in die Reihe der Positivisten stellen, so muss man sagen, dass sein Ansatz nicht formell, sondern mehr humanistisch war, also mehr an Goethes Denken als an der Naturwissenschaft geschult. Übrigens war Radbruch auch ein gro-ßer Kenner der Literatur und seine Beiträge zu zentralen Problemen der deutschen Literatur von Goethe bis Fontane füllen einen ganzen Band der Gesamtausgabe. Allerdings hat er selbstver-ständlich auch der Geschichtlichkeit des Rechtes einen Platz eingeräumt, aber weniger im Sinne seines großen Lehrers Franz v. Liszt, sondern auch hier mehr im Sinne der historischen Recht-sschule, deren Haupt Savigny war. Die Erfah-rungen aus der Zeit von 1933 bis 1945, in wel-cher Radbruch, durch den Nationalsozialismus verfolgt, seinen Lehrstuhl in Heidelberg verlo-ren hatte, wollte er nach Kriegsende in einer ne-uen Ausgabe seiner Rechtsphilosophie zum Aus-druck bringen. Dabei sollte das Naturrecht nach Aussagen seines berühmten Schülers Arthur Ka-ufmann eine größere Rolle spielen*. Man hat Radbruchs Rechtssystem als trialistisch bezeich-net, weil es sich nach drei Richtungen oder Di-mensionen entfaltet:

Gerechtigkeit in der Gestalt der Gleichheit, Rechtssicherheit und. Diesen drei Kriterien ents-prechen Staatsautorität, Staatsgarantie und Sta-atsnutzen. Allerdings hat das Gleichheitsprinzip, ähnlich wie das römisch-rechtliche “suum cui-que”, einen formalen Charakter. Unter der Zwe-ckidee versteht er die Gemeinwohlgerechtigkeit oder die soziale Gerechtigkeit. Hier zeigt sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Rechtssi-cherheit und der Gerechtigkeit, also zwei Postu-laten, die gleichen Rang haben. Radbruch ver-sucht die Lösung über das Einzelgewissen also durch eine subjektive Entscheidung, die einem “Schandgesetz” also Gesetzen gegen das Gewis-sen, den Gehorsam verweigert**. Er stellt hier auf das Einzelgewissen ab und verwirft ein Recht auf Widerstand. Allerdings gilt dies nicht für den Richter, der gegen sein widerstrebendes Rechtsgefühl die Norm des Gesetzes durch-zusetzen hat. Auf dieser Grundlage ist dann aber die Lösung des Problems des Widerstandsrech-tes oder auch des Überzeugungstäters unlösbar. Dennoch ist nicht die Rechtssicherheit, sondern der Gedanke des Zweckes also der sozialen Ge-rechtigkeit das Kernstück der Rechtsphilosophie Radbruchs. Er versucht zu einer materialen Re-chtslehre zurückzukehren. Man hat gerade auch darin seine Bedeutung gesehen, dass er nach 100 Jahren formaler Rechtslehre wieder über den materialen Inhalt des Rechtes nachgedacht hat. Dieses Nachdenken bezahlt er aber mit seinem Bekenntnis zum Wertrelativismus, d. h. zur Gleich-setzung verschiedener höchster Werte. Verschie-dene Autoren haben ihm diesen Relativismus vorgeworfen, der aber in Wirklichkeit ein sog. “positiver Relativismus” ist, wie Baratta ausge-führt hat, der diesen positiven Relativismus ei-nen Relativismus Goethes nennt. Die intensive Beschäftigung Radbruchs mit Goethe ist sicher ein zutreffender Grund, diese Annäherung auf-zustellen. Im Zusammenhang mit dem “positiven Relativismus” steht eben auch das Bekenntnis zur Toleranz und zur Demokratie als höchste Werte, die er schon in seinem Lyoner Vortrag im Jahre 1934 betont hat, wo er auch Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat zu einer Zeit hervorhebt, als er schon in Deutschland verfolgt war.

Einen wichtigen Aspekt bildet die Analogie-lehre, die für die Rechtsvergleichung als Verg-leich von Rechtskulturen von besonderer Bedeu-tung ist. In der Entfaltung seiner Analogielehre unterscheidet Radbruch drei Stufen, die abstrak-tallgemeine, die konkretisiert-allgemeine und die dritte Ebene als die konkret materiell-positi-ve Geschichtlichkeit des Rechts. Er bezeichnet dann die drei Ebenen als Rechtsidee, Rechts-norm und Rechtsentscheidung. Die Verbindung zwischen dem Analogieproblem und der “Natur der Sache” einerseits, mit der Rechts­verglei-chung verstanden als Vergleichung von Rechts-kulturen – andererseits, stellt Typuslehre und das Universalienproblem im besonderen dar. Die Rechtsvergleichung bedarf der Sinnfrage, indem sie nach dem Sinn der Lebensverhältnisse fragt, die Grund­lage der Rechtskultur waren oder sind. Der Typus bildet nach Arthur Kaufmann die “Mittelhöhe” zwischen Allgemeinem und Beson-derem, denn ohne einen solchen Mittelbegriff ist Rechtsvergleichung unfruchtbar. Weiter ist für die Rechtsvergleichung von Bedeutung, dass sie das “Universalienproblem” nicht verdrängt! Die Rechtsvergleichung steht hinsichtlich des “Uni-versalien­problems” zwischen Nominalismus und Realismus, indem sie die Typizität bejaht.

 

III. weitere Werke Radbruchs:

– Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, hrsg. und erläutert von Gustav Radbruch, Leipzig 1926, GRGA Bd. 11, S. 255-335

– Elegantiae Juris Criminalis. Sieben Studien zur Geschichte des Strafrechts, Basel 1938, 2. Aufl. 1950, in der GRGA auf verschiedene Bän-de verteilt

– Geschichte des Verbrechens, Versuch einer historischen Kriminologie (gemeinsam mit Hei-nrich Gwinner), Stuttgart 1951, GRGA Bd. 11, S. 19-254

– Strafrecht. Die Lehre vom Verbrechen an-hand von Rechtsfällen von Herbert Engelhard, ergänzt und herausgegeben von Gustav Radb-ruch, Heidelberg 1947, 2. Aufl. 1948, GRGA Bd. 8, S. 47-93

 

IV. Veröffentlichungen zu Radbruch:

1. Heinrich Scholler, Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen. Ein Bei­trag zu Gustav Radbruchs Rechtsvergleichung, in: Straf-gerechtigkeit, Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, hrsg. von Haft / Hassemer / Neumann / Schild/ Schroth, Heidelberg 1993, S. 743 ff.

2. Heinrich Scholler, Die Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch und seine Lehre vom über-positiven Recht, Duncker & Humblot Gmbh, Berlin 2002.

– Spendel

– Kaufmann in GRGA 1 Einleitung

– Arthur Kaufmann (hrsg.), Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, Göttingen 1958

IV. Radbruchs Wendung zum überpositiven Recht

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind drei wichtige Werke von Radbruch erschienen, die eine Wendung zum überpositiven Recht darstellen. Ja, man hat so-gar über die “Kehre” Radbruchs gesprochen.

Damit meint man vor allem die Gedanken, die Radbruch inseinem berühmt gewordenen Aufsatz vom “gesetzlichen Unrecht” niederge-legt hat. Er kommt hierbei zu dem Ergebnis, dass unter bestimmten Voraussetzungen bei einer Verletzung überpositiver Gerechtigkeits-prinzipien das formal gültige Gesetzesrecht ni-chtig werden kann. Ausschlaggebend dafür ist die Evidenz einer unerträglichen Verletzung von Gerechtigkeitsvorstellungen. Hier soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Radbruchs rechts-vergleichende Arbeiten ihn automatisch zu die-sem Bruch mit dem Positivismus geführt haben, also ob es sich in Wirklichkeit nicht um eine “Kehre” handelt, sondern um eine konsequente Weiterentwicklung eines grundsätzlichen Ansat-zes. Hierbei muss man nun den Rechtsphilosoph Radbruch analysieren und untersuchen, ob be-reits vor seinem‑ Studienaufenthalt in Oxford* 1936 Tendenzen erkennbar waren, seien sie na-turrechtlicher Art oder aus einem bestimmten Gerechtigkeitsideal hergeleitet, die ihn zur Kri-tik am positiven Recht führten.

Der Aufenthalt in England allein konnte ihn nicht veranlassen, eine so grundsätzlich kri-tische Einstellung gegenüber dem Gesetzgeber und dem von ihm gesetzten positiven Recht ein-zunehmen. Denn das englische Recht kennt nicht den Begriff der Supremacy of the constitution, der dem amerikanischen Recht, das auf geschrie-benem Verfassungsrecht beruht, selbstverstän-dlich und geläufig ist. Das Fehlen einer gesch-riebenen Verfassung, die Interpretation des un-geschriebenen Verfassungsrechts als “constitu-tional conventions”, die Vorstellungen von der Gleichheit aller Rechtsquellen musste eigentlich Radbruch in Oxford davon überzeugen, dass das englische Richterrecht nur seiner Rechtsquelle nach ein Gegensatz zum kontinentalen Gesetzes-recht darstellen würde, dass es selbst aber als Rechtsquelle zu positivem Recht führt.

Vielleicht kann man davon ausgehen, dass die Bindung an die Präjudizien im Common Law nicht so streng ist, wie die Bindung an das Ge-setzesrecht nach kontinentaleuropäischer Vors-tellung. Dennoch dürfte ihn sein Aufenthalt in Oxford allenfalls in einer gewissen Gedanken-richtung, die auf die Kritik des positiven Rech-tes bereits vorher abgezielt hatte, bestärkt ha-ben. Eine andere Möglichkeit der Interpretation liegt vielleicht darin, dass seine rechtsverglei-chende Beschäftigung sowohl mit dem engli-schen als auch mit dem amerikanischen Recht ihm eine andere Blickrichtung verschaffte, von welcher er nun das kontinentale Recht zu beur-teilen vermochte. Diese Idee der neuen Blick-richtung wird bestärkt durch den Titel des Auf-satzes, der in englischer und französischer Spra-che erschien und der gerade diese Blickrichtung zum Gegenstand hat, weil es dort heißt: “Das angloamerikanische Recht mit kontinentalen Augen betrachtet”*.

Die amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit, die im Federal Supreme Court und in dem Sup-reme Court der Gliedstaaten verankert ist, mus-ste zwangsläufig bei Radbruch die Vorstellung erwecken, dass es wohl nicht nur im höher-rangigen Verfassungsrecht, sondern auch in hö-herrangigen Gerechtigkeitsprinzipien eine Schran-ke des positiven Gesetzgebers geben müsse. Bet-rachtet man aber den eben zitierten Artikel nä-her, so findet man darin nicht ein Rekurrieren auf einen Verfassungsstaat, also die Supremacy of the constitution, sondern eher eine Beschäfti-gung mit dem Verhältnis von anglo‑amerikani-schen Richterrecht zu kontinentaleuropäischem Gesetzesrecht.

Allerdings untersucht Radbruch hier auch die Bedeutung der Rechtsphilosophie von Dicey, der Recht auf die Pfeiler von Command, Sanction, Duty und Sovereignty stützt. In dieser Theorie sieht er die endgültige Trennung von Recht und Moral im Bereich des englischen Common Law. Durch diese Trennung entsteht dann die Frage, ob bei grundsätzlicher und prinzipieller oder un-erträglicher Verletzung von Ethikgeboten das Gesetz so fehlerhaft sein kann, dass es als nich-tig angesehen werden muss.

Damit wäre eben doch die Beschäftigung mit dem angloamerikanischen Recht spätestens seit dem Aufenthalt in Oxford zumindest ein wesen-tlicher Pfeiler für seine neue Auffassung gewe-sen, die allerdings erst nach dem Weltkrieg nie-dergelegt wurde. Selbstverständlich hat auch mit dem Bruch des Nationalsozialismus und der da-mit verbundene Zusammenbruch des rechtssta-atlichen Gesetzgebers dazu geführt, Zweifel an der Legitimität des formellen Gesetztes zu entwickeln.

Dennoch ist damit nicht die weitere Frage beantwortet, ob nicht Radbruch in seiner ei-genen rechtsphilosophischen Ausgangsposition bereits Grundelemente mitgebracht hatte, die ihn dann zu einer Theorie des gesetzlichen Unre-chtes führten. Arthur Kaufmann hat mit viel Üb-erzeugung diese Vermutung dargelegt und ver-sucht nachzuweisen, dass Radbruch bereits An-fang der 30iger Jahre in seiner Rechtsphiloso-phie die Grundposition zu seiner späteren “Keh-re” gelegt hatte. Damit ist die “Kehre” dann doch keine echte grundlegende Positionsverän-derung, sondern nur die Fortführung und konse-quente Realisierung früherer Ideen. Diese Reali-sierung war allerdings nur möglich, weil sich Radbruch sehr intensiv mit einem anderen Re-chtssystem nämlich dem angloamerikanischen beschäftigte.

Es ist schon unrichtig davon auszugehen, dass Radbruch ein ausgesprochener Anhänger des Rechtspositivismus gewesen sei. Nicht der formelle Rechtsetzungsprozess lässt eine Recht-snorm entstehen, sondern doch nur dann, wenn die Norm ihrer Intention nach auf die Gerech-tigkeitsverwirklichung zielt, wenn sie also ge-rechtigkeitsorientiert ist.

Deshalb betont auch Arthur Kaufmann, dass dieser wertbezogene und wertorientierte Rechts-begriff bei Radbruch schon 1932 in seiner Rechts-philosophie angelegt war und darüber hinaus auf seine Grundzüge aus dem Jahre 1914 zurückgeht.

Diese frühen Ansätze bei Radbruch verbinden sich mit einer Anlehnung oder Berührung mit der neukantischen Philosophie der sog. Südwest-deutschen Schule. Radbruch hebt sich dadurch deutlich von der Marburger neukantianischen Schule ab, die unter starker und radikaler Beto-nung des Gegensatzes von Stoff und Form zu dem Ergebnis kam, dass der Stoff alleine, also der Rechtsgegenstand ohne die Rechtsform nicht erkennbar sei. Wichtiger Exponent auf dem Ge-biet der Rechtsphilosophie war Rudolf Stammler mit seiner Theorie vom richtigen Recht, die aber eine formale Rechtslogik darstellte. Ihm gegenü-ber ist Radbruchs Rechtsbegriff immer wertbe-zogen, denn das Recht ist für ihn eine wertorien-tierte Wirklichkeit. Wegen der zu postulierenden Beziehung zwischen Wirklichkeit und Wert kann es daher keine absolute Trennung zwischen Sein und Sollen geben. Wenn auch bei Radbruch in sei-ner früheren Periode eine Tendenz zum Methoden-dualismus, also zur Trennung von Sein und Sollen vorhanden war, so hat er sich doch hiervon später deutlich getrennt. Kaufmann sagt hierzu:

“Wenn Radbruch Positivist war, so war er es jedenfalls nicht im Sinne der Denkrichtungen des 19. Jahrhunderts, sein Positivismus war mehr hu-manistisch, realistisch an Goethes Denken ges-chult, als im naturwissenschaftlichem Empiris-mus der Zeit verwandt”*.

Interessant ist der Hinweis bei Kaufmann, dass Radbruch in Gesprächen vor seinem Tode mitgeteilt habe, dass er bei der Neubearbeitung seiner Rechtsphilosophie dem Naturrecht mehr Raum geben wolle. Dabei wird auch darauf hin-gewiesen, dass Radbruchs Wille zum System sich dergestalt zu erkennen gab, dass er ein “to-pisches” oder “offenes” System befürwortet. In seinen rechtsvergleichenden Arbeiten, vor allem in jenen, die sich mit angloamerikanischem Recht beschäftigen, tritt immer wieder die Dreiteilung seiner Gerechtigkeitslehre hervor:

“Das gerechte Gesetz muß dreierlei realisieren: Gleichheit, Rechtszweck und Rechtssicherheit”.

So kommt er zu dem Ergebnis, dass das sich durchsetzende und realisierende Gesetz Recht ist, es muss darüber hinaus einen Rechtszweck erfüllen können. Den wichtigsten Rechtszweck sieht er dabei in der Rechtssicherheit.

An dieser Stelle wird von dem Gewissen des Einzelnen die Rede sein, und davon welche Rol-le es bei der Gerechtigkeitsbeurteilung von Re-chtsnormen inne hat. Sogenannten “Schandge-setzen” darf das Einzelgewissen den Gehorsam verweigern. Allerdings leitet Radbruch daraus kein Recht zum Widerstand gegen “Schandge-setze” ab.

Die Abwehr des Gewissensspruches gilt vor allem der Stellung des Richters, der immer da-nach zu fragen hat, was Rechtens sei und nicht danach, was ihm gerecht erscheine. Hier wird man allerdings an die Formulierung erinnert, die sich in dem berühmten Buch von Montesquieu findet, wonach der Richter nur der Mund ist, der die Gesetze verkündet.

Obwohl also dem Gewissen eine gewisse Fun-ktion, ja eine wichtige Funktion zukommt, er-scheint das Problem des Widerstandsrechtes und des Überzeugungstäters als unlösbar. So sieht Kaufmann die Bedeutung der Rechtsphilosophie Radbruchs gerade darin, dass er nach 100 Jahren inhaltloser Debatten sich wieder den wertbezo-genen Aspekten des Rechtes zuwendet. Er spri-cht davon, dass Radbruch ein “inhaltlich gesät-tigtes soziales Ideal” aufstellen wollte. Damit wird die Tradition der inhaltslosen allgemeinen Rechtslehre verlassen und wieder über wertak-zentuiertes Recht nachgedacht.

Gleichwohl ist weiterhin fraglich, ob die re-chtsvergleichenden Arbeiten von Radbruch ihn in der Neubearbeitung seiner Rechtsphilosophie, die er ja plante, zu einer Überwindung des viel-gescholtenen Relativismus geführt hätten. Auto-ren wie Emge, Sauer, aber auch Larenz und Ma-yer haben mit verschiedenen Schwerpunkten dem Rechtsphilosophen diesen Wertrelativismus vor-geworfen. Sieht man in dem Ausspruch, dass sich der Rechtsphilosoph nunmehr dem Natur-recht zuwenden wolle oder doch wenigstens die-ses Naturrecht in seiner Neuauflage der Rechts-philosophie stärker betonen wollte, ein Abgehen vom Wertrelativismus?

Man wird diese Frage nicht eindeutig beant-worten können. Man muss aber hinzunehmen, dass sich die Entwicklung seiner Gedanken nicht im luftleeren Raum vollzog. Er war von den Na-tionalsozialisten aus dem Amt vertrieben wor-den. Er hatte sich intensiv mit dem Common Law beschäftigt und war so nach dem Kriege zu einem Angriff auf das rechtswidrige Gesetz ge-kommen. Von dem Boden eines Relativismus al-leine aus, konnte er dieses Postulat nicht erhe-ben. Er musste wohl in einem christlichen Natu-rrechtsdenken einen Wert im Visier gehabt ha-ben, der vielleicht nicht absolut, aber doch in concreto stärker bewertet werden musste, als der vom ungerechten Gesetz verfolgte Zweck oder die von ihm gewährte Rechtssicherheit.

Man hat mit Recht eingewandt, dass Rad-bruchs Wertrelativismus niemals ethische Indif-ferenz gewesen sei. So verweist Kaufmann auf den Lyoner Vortrag Radbruchs aus dem Jahre 1934: “Der Relativismus in der Rechtsphilo-sophie”. Hier leitet Radbruch die Postulate des klassischen Naturrechtes aus dem Relativismus ab. Dazu zählt er selbstverständlich auch die Ga-rantie der Menschenrechte, den Rechtsstaat und die damit verbundene Funktionsteilung der Gewal-ten. Man hat deshalb auch den Relativismus bei Radbruch einen “positiven Rationalismus” genannt.

Dieser Vortrag greift eine Äußerung wieder auf oder unterstreicht sie, die unser Philosoph schon 1919 gemacht hatte, als er den Positivismus als “Götzendienst der Macht” bezeichnet hatte.

Hier ist wohl auch wichtig festzustellen, dass Relativismus verbunden war mit der Idee der Demokratie und der Toleranz, was natürlich nicht in gleicher Weise für den Rechtspositi-vismus gelten kann. So wird man dem zustim-men müssen, dass man hier bei Radbruch den Durchbruch zum materiellen Rechtstaatsgedan-ken feststellt. Das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat wird in dem erwähnten Beitrag zum rechtswidrigen Gesetz dahingehend klarges-tellt, dass der Rechtsstaat wie das tägliche Brot und das Wasser sei und dass nur er die notwen-dige demokratische Regierungsform hervorbrin-gen könne.

Wiederholen wir die Frage noch einmal: War die Kritik am Rechtspositivismus, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg bei Radbruch deutlich wurde, das Ergebnis eines Umbruchs im Denken einer “Kehre” oder sogar eines Damaskuserleb-nisses? Hat der nationalsozialistische Gewalts-taat oder hat die Beschäftigung mit der Rechts-vergleichung, insbesondere mit dem angloameri-kanischen Recht, ihn dazu hingeführt oder sind diese beiden Elemente nur Begleiter auf einem Weg, den der Autor schon zögernd vor dem ersten Weltkrieg betreten hat, den er aber dann 1932 und 1934 beherzt verfolgte, und auf den die persönli-chen und politischen Ereignisse zu seinen rechts-vergleichenden Studien ebenfalls führten?

In der nordamerikanischen Auseinanderset-zung um die Radbruch'sche Formel* haben sich zwei Sichtweisen herausgebildet: Auf der einen Seite steht die transformation‑thesis und auf der anderen die unity‑thesis. Die erstere besagt, dass Radbruchs Theorie des rechtswidrigen Gesetzes (unjust law) eine Wende oder Kehre in seiner Rechtstheorie darstelle, während die unity‑thesis daran festhält, dass es sich nur um eine Forten-twicklung der früheren Gedanken handelt. Paul-son, der wohl führende Vertreter der Radb-ruch‑Interpretation in den Vereinigten Staaten, folgt hier der Interpretation durch Arthur Kauf-mann. Die Radbruch'sche Formel ist nach ihm eine Weiterentwicklung seiner ursprünglichen Lehre von der Rechtsidee als Vereinigung der Postulate nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Rech-tssicherheit, in dem allerdings dann die Schwer-punkte etwas anders gesetzt werden. Die Bedeu-tung der Rechtssicherheit wird zurückges-tuft. Man könne in diesem Vorgehen eine ge-wisse Kor-rektur eines früheren stark dem Posi-tivismus verhafteten Fehlers erkennen. Nunmehr wird di-ese Korrektur unter Anerkennung der Tatsache vorgenommen, dass die Ausnahmesituation der Jahre 1933‑1945 mit dem Erlass und der Anwen-dung von sog. “Schandgesetzen” eine solche Schwerpunktverlagerung verlangten. Der Begriff der “Schandgesetze” ist in den Spät-schriften Radbruchs der Kernsatz, den man he-ranziehen muss, wenn man den Begriff des unerträglichen Widerspruches zwischen Gesetz und Recht in-terpretieren will. Solche “Schandgesetze” sind eben Normen, mit welchen politische Gegner, Menschen anderer Rasse und Religion verfolgt, erniedrigt oder ums Leben gebracht werden (Zweckmäßigkeit an die Stelle von Gleichheit!). Zwar hatte ein anderer berühmter Schüler Rad-bruchs, Erik Wolf, aufgrund einer intensionalen Auslegung der Radbruch‑Schriften ebenfalls die Meinung vertreten, dass hier eine Wendung in Radbruchs Philosophie vorliege, doch konnte Paulson überzeugend drei Gründe vorbringen, warum Radbruchs Position eben nur diese Akze-ntverlagerung darstellt:

Das Verhältnis von statutory‑non‑law und des subra‑statutory‑law wird nur in Ausnahmefällen zu einem mehr oder weniger radikalen Konflikt, denn im Wesentlichen und im Regelfall bleibt das Gesetz die Grundlage der Herstellung von Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssi-cherheit. Wichtig für die Beantwortung der Fra-ge nach der Einheit in Radbruchs Denken oder einer grundlegenden Kehre ist schließlich auch der moderne Begriff des überpositiven Rechtes, das für ihn nicht universalistisches, sich immer gleichbleibendes Naturrecht ist, sondern viel-mehr ein überpositives Recht mit wechselndem Inhalt. Dieses überpositive Recht hat dann eben auch einen überpositiven Gesetzgeber, der dur-chaus Wertewandel und Akzentverschiebungen dort übernehmen kann, wo solche Modifikatio-nen aufgrund des Gerechtigkeitspostulats erfor-derlich werden.

Der Streit um die Frage, ob der Rechtsposi-tivismus dem Nationalsozialismus Vorschub ge-leistet hat, oder ob er hier eine Bremse war, be-darf hier keiner Entscheidung. Bemerkt sei nur, dass es wohl auf den Zeitpunkt der Betrachtung ankommt: Vor Beginn mag der Rechtspositivis-mus einer radikalen Bewegung Unterstützung verleihen, im Verlauf der Verletzung traditionel-ler Werte und grundsätzlicher Prinzipien wird er aber als Hemmung wirken.

 

In der Zeit nach der Wiedervereinigung Deut-schlands hat die Radbruch'sche Formel eine in-tensive Wiederbelebung erfahren. Die Mauer-schützenprozesse* haben bei der Frage, ob der befehlende Offizier oder der ausführende Soldat oder schließlich der leitende Politiker durch ein positives Gesetz oder eine entsprechende Norm gedeckt gewesen sei, in den Mittelpunkt der Ju-dikatur gestellt. Dabei handelt es sich nicht al-lein um die Frage, ob die nulla‑poena‑Formel durch die Radbruch'sche Formel aufgehoben wurde, sondern auch darum, ob es überhaupt ei-ne gesetzliche Normierung des Schießbefehles gegeben habe.

 





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Дата добавления: 2015-05-22; Просмотров: 489; Нарушение авторских прав?; Мы поможем в написании вашей работы!


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